Gestatten,
KÄSTNER!
Emil Erich Kästner (* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter. Er zählt zu den Autoren von Weltgeltung – eine Seltenheit unter den deutschsprachigen Literaten dieser Zeitepoche. Bis heute ist er einer der am meist übersetzten Autoren weltweit.
Erich Kästner – der widersprüchliche Moralist oder der Mann mit den vielen Gesichtern
Schöpfer grandioser Kinderbücher, begnadeter Selbstdarsteller, Humorist, Sohn einer Helikopter-Mutter, geplagt von Schreibblockaden und Alkoholproblemen: Erich Kästner war ein Mann voller Widersprüche. Vor 125 Jahren kam er in Dresden zur Welt.
Erich Kästner liebte das Rollenspiel. In seinen Texten wimmelt es von Doppelgängern und Spiegelbildern, vertauschten Identitäten, Verkleidungen und Tarnkappen, von kindischen Erwachsenen oder vernünftigen Kindern. Und auch er selbst verbarg sich hinter mancherlei Masken.
Kästner selbst feilte an seinem Image
Dabei tat Kästner selbst einiges dafür, dass sein Privatleben nicht öffentlich verhandelt wurde. «Seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle hat seine erste Biografie geschrieben und da steht nichts drin, was ihm nicht gefallen hätte», sagt Sven Hanuschek, Professor für Germanistik in München und Herausgeber mehrerer Kästner Werke. Seine umfangreiche Biografie über den Schriftsteller trägt den Titel «Keiner blickte hinter das Gesicht».
Kästners Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit, seine Schuldgefühle, Schreibblockaden und Alkoholprobleme finden da keinen Platz. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben ihn nicht unbeschädigt gelassen, und seine Rolle im Dritten Reich ist ebenso zwiespältig wie sein Umgang mit Frauen.
Unter der überehrgeizigen Mutter wird er zum Musterknaben
Erich Kästner kommt 1899 in einer Dresdner Mietskaserne als einziger Sohn einer überaus ehrgeizigen Helikopter-Mutter zu Welt. Da bleibt dem Kind gar nichts anderes übrig, als ein Musterknabe zu werden. Er hat stets die besten Noten, ist fleissig und wohlerzogen. Kästners Vater, Emil, hat in dieser Familie nichts zu sagen. Ida erzählt ihrem Sohn sogar, dass Emil gar nicht sein Vater ist.
Kästner mit seinem Vater Emil und seiner Mutter Ida in Dresden nach dem Krieg
Dem Wunsch seiner Mutter folgend, wird Kästner mit 14 ins Lehrerseminar aufgenommen. Nach der Ausbildung erkennt Kästner allerdings, dass er für diesen Beruf nicht geeignet ist. Er macht sein Abitur nach und studiert in Leipzig Germanistik. Zugleich beginnt er als Journalist zu arbeiten, mit einem enormen Output – oft unter Pseudonym, damit die Kollegen nicht neidisch werden.
Genierausch 1927–1933
1927 zieht Erich Kästner nach Berlin. Er schafft es in Rekordzeit, Autor für sämtliche wichtige Zeitungen zu werden, und schreibt ausserdem für die neuen Medien, Hörfunk und Film. Auch sein erster Gedichtband «Herz auf Taille» wird ein grosser Erfolg. Kästner sieht sich als Gebrauchslyriker, will einfach und klar schreiben.
Den ganz grossen Durchbruch schafft der 30-Jährige 1929 mit seinem ersten Kinderbuch: «Emil und die Detektive» wird ein Welterfolg. Kästner macht nicht nur die moderne Grossstadt zum Schauplatz seines Romans, er verwendet auch die schnodderige Sprache, die in den Berliner Strassen gesprochen wird. Seine Helden mögen wohlerzogene Musterknaben sein, doch zugleich sind sie abenteuerlustig und furchtlos, und sie halten zusammen. Kein Wunder also, dass Kinder wie Erwachsene dieses Mutmach-Buch lieben.
Diese Zeit hat Hanuschek als «Genierausch» beschrieben und sie begründet seinen Weltruhm. Innerhalb dieser wenigen Jahre schreibt Kästner seine erfolgreichsten Gedichtbände, schreibt zeitkritische Texte fürs Kabarett, veröffentlicht seine weltweit erfolgreichen Kinderbücher, den satirischen Roman «Fabian» und liest als einer der ersten Autoren seine Werke live via Radio Berlin seinem Publikum vor (heute würde man dem Podcast sagen). 1934 legt er mit «Drei Männer im Schnee» seine bis heute wohl bekannteste Verwechslungskomödie vor, welche va auch durch die Verfilmung von Kurt Hoffmann 1955 grosse Erfolge feierte.
Kästner liest live seine Werke am Radio vor
Kästner während einer Vorlesung eines Kinderbuches via Bayrischem Rundfunk
Kästner: Augenzeuge der Bücherverbrennung seiner Werke
Mit Hitlers Machtübernahme endet Kästners Karriere abrupt. Im Gegensatz zu fast allen seinen regimekritischen Kollegen emigrierte Kästner nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 nicht. Kästner begründete diesen Schritt unter anderem damit, dass er vor Ort Chronist der Ereignisse sein wolle. Tatsächlich sammelte er Material aus der Zeit und machte sich in einem geheimen Tagebuch für einen künftigen Roman über das „Dritte Reich“ umfangreiche Notizen in Gabelsberger-Kurzschrift. Dieses blau eingebundene Buch versteckte er in seiner Bibliothek, nahm es aber während des Krieges bei Bombenalarm mit in den Luftschutzkeller, weshalb es – anders als seine viertausend Bücher – erhalten blieb. Mindestens genauso wichtig dürfte aber sein, dass er seine Mutter nicht allein lassen wollte. Kästner selbst sagte später in einem Interview, dass er die Lage falsch eingeschätzt hatte und niemals damit rechnete, dass diese Zeit 12 Jahre dauern würde. Auch spielte die Tatsache mit, dass Kästner selbst keine Fremdsprachen sprach und somit eine Flucht für ihn nicht schlüssig erschien. Mit dem Epigramm Notwendige Antwort auf überflüssige Fragen (aus: Kurz und bündig) lieferte er gewissermassen selbst eine Antwort:
«Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. Mich lässt die Heimat nicht fort. Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.»
Er selbst ist Augenzeuge, als seine Werke bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz in die Flammen geworfen werden. «Ich stand vor der Universität eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. (…) Es war widerlich.»
Der Schriftsteller darf jetzt nur noch im Ausland veröffentlichen. Er steht unter Beobachtung und wird zweimal von der Gestapo verhaftet.
Kästners Film sorgt bei Hitler für Wutanfall
Mit einer Sondergenehmigung von Goebbels soll Kästner 1943 ein Drehbuch verfassen, für den grossen Jubiläumsfilm zum 25. Geburtstag der Ufa. «Münchhausen» ist der teuerste Film des Dritten Reichs. Der Film soll dem kriegsmüden Menschen auch zeigen, zu was das Land noch in der Lage ist.
«Das entspricht natürlich der Durchhalte-Logik», sagt Hanuschek. «Andererseits sind Sequenzen drin, die einfach ziemlich irrsinnig sind. Also es gibt so eine Cagliostro-Figur, das ist für mich eine Hitler-Karikatur», sagt der Historiker weiter. Prompt soll Hitler bei der Sichtung einen Wutanfall bekommen haben. Es folgt ein Totalverbot.
Bei den Frauen hat es Kästner nicht mit der Moral
Und dann sind da noch die Frauen, die viel Zeit beanspruchen. Ein pikantes Thema, denn Kästner führt ein äusserst anstrengendes Doppelleben. Nach aussen hin ist er bis zu seinem Tod mit Luiselotte Enderle liiert. Doch nebenher läuft noch so einiges im gut Verborgenen, wie man zum Beispiel in Hanuscheks Biografie nachlesen kann. Wenn Kästner abends seine Wohnung in der Schwabinger Fuchsstrasse oder nach 1953 sein Doppelhaus in der Flemingstrasse verlässt, dann hat er nicht immer nur Arbeit im Sinn, auch wenn er gerne in Bars schreibt. Besonders intensiv ist die Beziehung zur Schauspielerin Friedel Siebert, die er 1949 in seinem Stammcafé Leopold kennenlernt und die 1957 den gemeinsamen Sohn Thomas bekommt – Tatsachen, die der Autor seiner Partnerin Enderle jahrelang sorgfältig verschweigt.
Doch das Doppelleben fordert seinen Tribut: Kästner bricht 1961 auf einer Lesetournee zusammen. Im Verlauf der langwierigen Genesung von einer offenen Tuberkulose gelingt es ihm, einen Kompromiss zwischen seinen Frauen auszuhandeln: Fortan lebt er abwechselnd fünf Wochen in München bei Luiselotte Enderle, fünf Wochen bei der nach Berlin gezogenen Friedel Siebert – bis letztere 1969 endgültig genug hat von dieser schrägen Konstruktion und sich trennt.
Kästner mit Luiselotte Enderle um 1950
Erich Kästner und sein Sohn kurz vor seinem Tod 1974 in München
Nach dem Krieg wird er zum Friedensaktivist
In den letzten Kriegswochen kann Kästner mit gefälschten Papieren ein Filmteam nach Österreich begleiten. Da trifft er einen KZ-Überlebenden, der ihm haarklein von Auschwitz erzählt. Sein Bericht über die unvorstellbaren Gräueltaten trifft Kästner zutiefst. Ein Roman über das Dritte Reich zu schreiben, kommt für ihn nicht mehr infrage.
So berichtet Kästner in der Nachkriegszeit als Journalist von den Nürnberger Prozessen und verfasst aufklärerische Texte fürs Kabarett. Ausserdem geht er auf die Strasse zusammen mit jungen Leuten, protestiert gegen die Wiederaufrüstung oder gegen Atomwaffen.
Kästner an einer Demo gegen Atomstrom
Kästner an einer Demo gegen Atomstrom
Kästner schreibt aber auch weiter für Kinder, «Die Konferenz der Tiere» oder «Das doppelte Lottchen», sein grösster Erfolg nach dem Krieg. Immer wieder besucht er Schulklassen. In den Kindern sieht er die Hoffnung auf eine bessere Welt.
Dass seine letzten Jahre eher trübe sind, liegt auch an seinem aufreibenden Privatleben zwischen zwei Frauen in Berlin und München. Kästner erkrankt an Tuberkulose, trinkt immer mehr und schreibt immer weniger.
Am 29. Juli 1974 stirbt Erich Kästner im Alter von 75 Jahren an Krebs. Nicht nur seine Kinderbücher und Gedichte haben ihn überlebt. Auch vieles, was er über die Verführbarkeit der Menschen geschrieben hat, bleibt aktuell.